Christenliche Kilchengesang. Bern 1606 (Johann le Preux)

In Bern wurde nach der Durchführung der Reformation der Gottesdienst nach dem Vorbild Zürichs als reiner Predigtgottesdienst durchgeführt, ein Typus, der auf das Spätmittelalter zurückgeht und außer der Predigt (als Bibelauslegung) Gebete und katechetische Stücke, jedoch keine musikalischen Elemente enthält.

Dieser Liturgietyp war im oberdeutschen und schweizerischen Raum nach der Reformation die Norm. Vielerorts erweiterte man ihn um den Gemeindegesang; dazu wurden in erster Linie die in Straßburg entstandenen Psalmlieder, aber auch Lieder aus der lutherischen deutschen Reformation verwendet.

Ein dergestalt kombiniertes Repertoire enthält das Gesangbuch, das in Konstanz zum ersten Mal um 1533/34 herausgegeben wurde. Es bildete in seinen vielen Auflagen und Erweiterungen durch das ganze 16. Jahrhundert hindurch die Grundlage für den Gemeindegesang in den meisten reformierten Deutschschweizer Orten.

Bern führte 1558 im Münster den Psalmengesang ein, und zwar vorerst wohl nur durch die Schüler, denen bereits 1538 der Psalmengesang in der Schule verordnet worden war. 1574 begann der Gemeindegesang "vor und nach der predig", worunter wohl Beginn und Schluss des Gottesdienstes überhaupt zu verstehen ist.

Ein eigenes bernisches Gesangbuch gab es damals noch nicht. Möglicherweise hatte auch nur der Kantor (Vorsänger) ein Buch; die Gemeinde sang ihm nach Gehör hinterher oder auswendig. Solche großformatigen Vorsängerbücher sind in Bern erhalten. Eines ist 1572 in Straßburg gedruckt worden, ein anderes ist 1603 von Hand geschrieben worden (Burgerbibliothek Bern Cod A 33).

Dieser Kodex ist als der unmittelbare Vorläufer des Gesangbuchs von 1606 zu betrachten. Schon die weitgehende Übereinstimmung des Titels zeigt dies:

Vorsängerbuch 1603 Gesangbuch 1606

Christenliche Kirchengesang das ist: Die vsserlässnesten vnd brüchlichestenn Psalmen Dauids / vss dem alten Psalmenbuch / vnd D. Ambrosij Lobwassers Composition gezogenn. Sampt den Fästgesangenn vnd geistlichen Liederen / für die Kilchen Bern zusamenn gesetzt. 1603

Christenliche Kilchengesang. Das ist: Die vsserläsnesten vnd brüchlichesten Psalmen Dauids / sampt den Fäst-Gesangen/ vnd gemeinesten Geistlichen Liederen/ ouch angehencktem Catechismo/ vnd etlichen Gebätten/ zusammen verfasset.
Für die Christenliche Gemeynd der Kilchen vnd Schulen der Statt Bern.

Getruckt zu Bern/ bey Johann le Preux Im Jahr 1606.

Auch im Bestand ist die Beziehung eng: Von den 72 Liedern des Gesangbuchs stehen deren 66 im Kantorenfolianten. Davon sind 5 deutlich anders eingeordnet, bei einem Lied ist zusätzlich die im Kantorenbuch fehlende Melodie abgedruckt. Ein "alter Psalm" wurde durch die Lobwassersche Bereimung ersetzt (Psalm 23)

Aus dem Kantorenbuch nicht übernommen wurden 16 Lieder. Davon sind 12 Psalmen, von diesen wiederum handelt es sich in 5 Fällen um die Beseitigung von Doubletten, d.h. im Kantorenbuch standen zwei unterschiedliche Versifikationen desselben Psalms. Zweimal entfiel dabei der Lobwasser-Psalm (Psalmen 1 und 13), zweimal blieb Lobwasser anstelle älterer Umdichtungen (Psalmen 3 und 130), für Psalm 124 entfiel die Luther-Fassung, und diejenige von Justus Jonas wurde beibehalten.

Weiter gestrichen wurden 6 Lobwasser-Psalmen und ein Luther-Psalm (in diesem Fall Psalm 67), dazu vier andere Lieder (beide Nunc-dimittis-Lieder, dasjenige aus Straßburg und die Genfer-Lobwasser-Fassung). Neu gegenüber dem Kantorenbuch kamen 4 Lobwasser-Psalmen hinzu und das Lied "O Gott lob danck sey dir geseit" von Niclaus Keller.

Kantorenbuch und Gesangbuch gehören zu den frühesten Dokumenten für die Umstellung des Psalmengesangs in der Deutschschweiz von der Straßburger/Konstanzer Tradition auf den Lobwasser-Psalter, die deutschsprachige Nachdichtung des Genfer Psalters (entstanden 1539-1562 in Genf, Nachdichtung durch Ambrosius Lobwasser erschienen 1573 in Leipzig).

Eine ähnliche Übergangssituation repräsentiert das im selben Jahr in St. Gallen erschienene Gesangbuch, während in Zürich kurz vorher (1598) der gesamte Lobwasser-Psalter neben dem ersten offiziellen Zürcher Gesangbuch erschien, welches sich noch an die Repertoiretradition des 16. Jahrhunderts anschloss.

1620 erschien in Bern nochmals ein Gesangbuch mit gemischtem Psalmenteil; von 1655 wurde der vollständige Lobwasser-Psalter gedruckt.

 

Literatur:

Adolf Fluri: Versuch einer Bibliographie der bernischen Kirchengesangbücher. In: Gutenberg-Museum 6. Jg. Bern 1920,S. 35-47 und 117-120; 7.Jg 1921, S.22-24 und 85-88; 8.Jg.1922, S. 20-22 und 94-97; 10.Jg. 1924, S. 88-96.

Markus Jenny: Geschichte des deutsch-schweizerischen evangelischen Gesangbuches im 16. Jahrhundert. Basel 1962.

Martin Roder: Das erste Berner-Kirchengesangbuch von 1603. Bern o.J. (ca.1962), masch.

Martin Roder: Das älteste gedruckte Kirchengesangbuch von Bern 1606. Bern 1964), masch.

Gerhard Aeschbacher: Reformation und kirchenmusikalisches Leben. In: 450 Jahre Berner Reformation. Historischer Verein Bern 1978, S. 225-247